Es gibt immer einen Weg, auch wenn dieser auf den ersten Blick nicht sichtbar ist.
Als Barbara Oeuvray im Theresianum zur Schule ging, eröffnete sich ihr eine ganz neue Welt in den Bereichen der Kultur, Kreativität, musischen Tätigkeiten und Zwischenmenschlichkeit, welche sie so in ihrem behüteten zu Hause nicht hatte oder haben konnte. Sie erinnert sich an das Vogelgezwitscher vor dem Schlafsaalfenster im obersten Stockwerk, an den Duft der katholisch anmutenden Räume und an die geschmuggelte Zuger Kirschtorte, die zur eigenen Geburtstagsparty im Klassenzimmer geteilt wurde. Dabei hörte sie mit ihren Klassenkameradinnen die Bee Gees, Supertramp und AC/DC und sie fühlten sich unglaublich cool und erwachsen. Im Theri hat Frau Oeuvray gelernt, mutig zu sein, selbständig zu werden und dass Schwestern auch nur Menschen sind. Ihre Mutter hatte ja insgeheim gehofft, dass sie einen religiösen Weg einschlagen und dort bleiben würde …
Ich bin dankbar dafür, dass ich jetzt noch Kontakte zu meinen Mitschülerinnen habe, obwohl ich schon nach zwei Jahren das Theri verliess. Das Theri zeigte mir neue Perspektiven auf, die mich bis heute begleiten.
Ende der 80er Jahre war es einfach, eine Arbeit zu finden. Ich merkte sehr bald, dass eine junge Frau mit guten Noten nicht gleich viel verdiente, wie ein junger Mann mit mittelmässigem Zeugnis aus der gleichen Klasse, einfach, weil er ein Mann ist. Das hat mich bewogen, erstens eine weitere Ausbildung zu machen, um meine eigene Chefin zu sein, und zweitens, dafür auch einen fairen Lohn zu erhalten, weil ich es Wert bin. Das war damals keine Selbstverständlichkeit, musste ich doch alle Register ziehen und lernen, vorteilhaft zu argumentieren.
Ich war schon immer sehr wissbegierig. Da ich im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit als Geschäftsführerin und Verwaltungsrätin mit wirtschaftskriminalistischen Machenschaften konfrontiert war und bin, möchte ich mich darauf vertieft spezialisieren. Der Masterstudiengang Economic Crime Investigation ist in der Schweiz einmalig und dauert drei Semester plus Masterarbeit. Ich hatte früher ein paar Kurse in London besucht. Diese waren aber ausschliesslich auf den angelsächsischen Raum beschränkt und dauerten jeweils nur ein paar Tage.
Women’s International Shipping and Trading Association (WISTA) wurde in den 70er Jahren von ein paar Damen über einem Londoner Pub gegründet. Diese Damen waren im Chartering oder Operations tätig, durften aber die Herrenclubs nicht besuchen, dort, wo man Kontakte pflegte und Verträge ausgehandelt wurden. Dieser Ungerechtigkeit wollten sie durch die Gründung von WISTA entgegenwirken. Das taten sie so erfolgreich, dass mittlerweile weltweit über 6000 Frauen und neuerdings auch Männer beigetreten sind. Die maritime Welt ist eine männerdominierte Welt mit Ausnahme der Kreuzfahrt. Das bewog mich, dieses wunderbare Netzwerk auch in der Schweiz aufzubauen. Wir sind mittlerweile um die 100 Mitglieder, vornehmlich in Genf.
Ich reise gern und viel, privat wie geschäftlich, und bin noch kurz vor dem Lockdown nach Australien zu meiner Kollegin, Claudia, gereist. Auch sie ist eine ehemalige Theri-Mitschülerin. Nun kompensiere ich das Reisen mit ausgedehnten Spaziergängen in der näheren Umgebung, auf dem Lindenberg oder am Zugersee. Bei mir muss immer etwas laufen, entweder male ich, lerne wieder eine neue Sprache (momentan die siebte, nämlich Sursilvan, ein rätoromanisches Idiom) oder korrespondiere in verschiedenen Sprachen mit Freundinnen und Freunden aus aller Welt.
Ich würde das als Entscheidungsträger nochmal gut überdenken. Ich kann nur aus eigener Erfahrung berichten: Als ich zur Kantonsschule wechselte, fiel mir auf, wie viel selbstbewusster ich im Vergleich zu den anderen Kantischülerinnen war. Das wurde mir auch von meinem damaligen Klassenlehrer bestätigt. Ich begegne Männern und Frauen immer auf Augenhöhe. Ich bin keine Pädagogin, aber befürworte geschlechtergetrennten Unterricht während einer gewissen Entwicklungsphase bei jungen Menschen. Das Aufgeben einer solch etablierten, bewährten und geschützten Institution bedaure ich sehr. Ich bin überzeugt, dass in der Politik und Wirtschaft einige Frauen zu finden sind, die im Theri waren, und dass die eine oder andere in einer gemischten Institution nicht den gleichen Weg eingeschlagen hätte.
Es gibt immer einen Weg, auch wenn dieser auf den ersten Blick nicht sichtbar ist. Denkt lösungsorientiert und positiv. Hört auf euch selber, geht euren eigenen Weg und lasst euch nicht von der Familie, Influencern, Parteien, Facebook oder einem Guru auf- oder abhalten bzw. vereinnahmen.
Was ihr heute hasst, liebt ihr vielleicht morgen. Wo es Chancen gibt, gibt es auch Risiken. Seid euch dessen bewusst, handelt und tragt die Konsequenzen. Bleibt stets offen und neugierig für Menschen, Orte, Kulinarik, Berufe und vieles mehr und lasst zu, dass euer Horizont erweitert wird. Das Leben ist so reich an Freude, Erfahrungen, Erfolg und Glück.
Und falls mal alles zu viel wird, lasst Hilfe zu und nehmt sie an. «Every cloud has a silver lining.»
Janine Gallicchio, Vizepräsidentin
Barbara Oeuvray
Am 3. April 1966 in Zug geboren
Wohnort
Aufgewachsen in Unterägeri
Aktuell wohnhaft in Zug
Ausbildung
1973-1979 Primarschule, Unterägeri
1979-1982 Gymnasium, Theresianum Ingenbohl
1982-1984 Gymnasium, Kantonsschule Zug
1984-1986 Handelsmittelschule, Kantonsschule Zug
1992-1994 FA Finanz- und Rechnungswesen, KV Business School, Zürich
2000-2001 Management Leadership Diplom, KV Business School, Zürich
2008-2008 Maritime Studien, Cambridge Acadamy of Transport, in Cambridge
2011-2011 Diplom Risk Assessment, HSLU
2020 CAS Compliance, Risk Management and Governance HSLU
2021-2022 Masterstudiengang Economic Crime Investigation HSLU
Berufliche Tätigkeiten
1988-1989 Buchhalterin bei Johnson & Johnson Cilag International AG, Zug
1989-2004 Finanzmanagerin bei Stena AB (Seefahrt), Zug
2005-2020 Geschäftsführerin bei Concordia Maritime (Tankergesellschaft), Zug
2008-heute Member of the Board of Advisors (Shoreline Ltd.), Bermuda