Lernen, so viel man nur kann!
Es ist nicht nur ein einziger Moment, sondern es sind vielmehr verschiedene Personen in ihrer Therizeit, welche sie zu ihrem aktuellen Schaffen angeregt haben. Drei Personen waren für Esther Mirjam Girsberger in ihrem Berufswunsch besonders prägend. Zum einen Schwester Marie-Marthe Schöneberger. Sie sieht diese Frau in ihrem inneren Auge immer noch vor sich, wie sie von ihrer persönlichen Familiengeschichte erzählte und sogleich die Thematik mit dem Erbrecht verband. Beispielsweise: Was geschieht, wenn jemand stirbt und es ein Testament gibt? Wie fechtet man es an, wenn nicht alle Bedingungen erfüllt sind?
Herr Rohner war sehr beeindruckend, wie er nur mit zwei Zetteln und seiner Kreide auf der Tafel den Unterricht spannend gestaltete. So eröffnet sich damals für Esther Mirjam eine neue Welt über die Geschichte der Welt und die Literatur. Zum anderen hat Schwester Philipp viel dazu beigetragen, mit ihrer positiven Energie, ihrem zackigen Schritt auf Schulexkursionen und ihrer fröhlichen und herzlichen Art den Theri-Alltag der ehemaligen Schülerin zu bereichern.
Zum einen waren da die engagierten Lehrpersonen im Theri, welche den Schülerinnen neue Tore zur Welt eröffneten. Damals wurde das Siezen an der Schule eingeführt, als Schülerin fühlte ich mich dadurch ernst genommen. Ein Satz von Pius Rohner hat sich bei mir sehr stark eingeprägt: «Selbst ist die Frau!» Dieser Satz kam in passenden wie auch unpassenden Situationen im Unterricht vor. Aber dadurch habe ich mitbekommen, dass ich als Frau Kompetenzen und Fähigkeiten habe und die Probleme selbstständig lösen kann. Im Allgemeinen war es eine super Ausbildung, wahnsinnig breit gefächert und mit Extraaktivitäten gespickt. Als damalige Sprachaustauschschülerin in Nordfrankreich wurde ich mit politischen Meinungen und Denkweisen Einheimischer konfrontiert, die ich nur schwer nachvollziehen konnte. Die Schule Theresianum hat geholfen, die Welt zu erkunden.
Eine interessante Geschichte führte zur Wahl der Uni in Lausanne. Meine Eltern wünschten sich, dass ich, wenn ich in Zürich studiere, auch nach Hause pendeln würde. Vor dem Entscheid zum Wirtschaftsstudium wollte ich viel lieber Sprachen studieren, aber meine Eltern meinten, dass man damit nicht viel anfangen könne und ich in der Lehrtätigkeit landen würde. Einem Mathematikstudium war ich auch nicht ganz abgeneigt und da meinten meine Eltern erneut, sie sähen mich nicht als Lehrperson, ich hätte zu wenig Geduld. So entschied ich mich für ein Wirtschaftsstudium. Das war für meine Eltern, die ein Unternehmen führten, akzeptabel. So stand ich vor dem Entscheid des Studienortes und ich beschäftigte mich mit den Sprachregionen der Schweiz. Nach Lausanne – da wollte ich hin! Demzufolge würde ich nicht pendeln müssen. Damit ich meine Eltern überzeugen konnte, argumentierte ich damit, dass ich nebenbei ja doch noch mit der Sprache Französisch etwas dazulernen könne. Die Antwort meiner Mutter lautete: «Ja, da kannst du definitiv nicht pendeln.» Nach der gemeinsamen Budgetplanung und diversen Vereinbarungen mit den Eltern war es dann so weit. Drei Monate hatte ich noch in Neuenburg in einem Restaurant gearbeitet, um die Sprache besser zu lernen und mir einen finanziellen Zustupf zu verdienen. Das Wirtschaftsgymi im Theri hat ebenfalls dazu beigetragen, dass ich Fremdwörter und Fachbegriffe während des Studiums in Lausanne gut ableiten konnte. Ich bin während des Studiums gereist und habe einige Länder kennengelernt. Die ersten zwei Jahre meines Studiums habe ich in Lausanne verbracht und das dritte in Madrid. Den Master erhielt ich in Lausanne und ich doktorierte in Florenz und während eines zweimonatigen Aufenthalts in Yale.
Schwester Marie-Marthe Schönenberger hat mit ihren Geschichten zum Thema Wirtschaft und Recht viel zu den prägenden Erlebnissen beigetragen. Ich ging damals alle meine Interessen durch: Sprachen – nein, Mathe – nein, also blieb mir nur noch die Wirtschaft. Den Eltern wäre vielleicht Betriebswirtschaft lieber gewesen, da Papa ein eigenes Geschäft hatte. Ich merkte aber, dass Volkswirtschaft für mich interessanter war, gerade auch weil die politische Dimension einbezogen wird. Neben Mikro- und Makroökonomie greift die Volkswirtschaft auch verschiedene Bereiche wie Steuerpolitik, Umweltpolitik, Sozialpolitik und so weiter auf. Es geht dabei oft um die Frage, was denn das Beste für die Gesellschaft ist.
Als die Anstellung in Lausanne sich dem Ende zuneigte, wusste ich noch nicht genau, wohin es mich zieht. Insgesamt hatte ich mich damals für 160 Stellen weltweit beworben. Das ist nicht unüblich für Assistenzprofessuren in Ökonomie. Andere Leute haben mir von Australien erzählt, wie schön es da sei, und so habe ich mich dann auch hier beworben. Es wurde in Kürze sehr konkret, da eine Universität in Sydney sehr an meinem Profil interessiert war. Sie luden mich zu einem Besuch ein und ich durfte während eines Tags die Universität, das Department und die Leute kennenlernen. Es gefiel mir sehr und so entschieden mein Mann und ich, dass wir uns auf dieses Abenteuer einlassen würden. Mein Mann bezog ein Jahr unbezahlten Urlaub, damit ich die Stelle annehmen und wir das Land kennenlernen konnten, ohne zugleich alle Brücken hinter uns abzubrechen. Beinahe sofort haben wir uns in das Land verliebt und so beschlossen wir, uns bis auf Weiteres hier niederzulassen. Wir wohnen in der Nähe vom Ozean, es hat viele Nationalparks, reichlich Grün, die Natur ist wunderbar und der australische Kontinent beherbergt witzige Tiere. Das Land ist westlich geprägt, hat aber auch eine beträchtliche koloniale Geschichte. Speziell ist, dass Weihnachten im Hochsommer gefeiert wird, auch das dazugehörige Festessen passt irgendwie nicht zum Sommer. Und doch gefällt mir dieser Kontrast. Die unglaublich hilfsbereiten und offenen Menschen in Sydney haben auch dazu beigetragen, dass wir bleiben wollen.
Das Forschungsprojekt behandelt das Thema Mutterschaftsversicherung, welche in der Schweiz 2005 eingeführt worden ist, und es wird nach möglichen Effekten von betroffenen Frauen untersucht. Eine der Haupthypothesen war, dass Frauen dank der Mutterschaftsversicherung eher im Arbeitsmarkt bleiben, wenn auch vielleicht nur in Teilzeit. Haben die Frauen durch die Mutterschaftsversicherung eher Bestand gehabt in der Arbeitswelt oder haben sie einen höheren Verdienst erreicht? Sind solche Veränderungen eingetroffen? Leider nein! Unsere Forschungsarbeit zeigt, dass die Mutterschaftsversicherung zwar kleine Auswirkungen auf das Arbeitsleben der Frauen hatte, diese Effekte sind aber statistisch nicht signifikant. So stellten wir uns die Frage, ob die Mutterschaftsversicherung vielleicht andere, für uns unerwartete Auswirkungen gehabt haben könnte. Haben die Frauen zum Beispiel mehr Kinder gehabt? Mit unseren Analysen konnten wir aufzeigen, dass die Frauen nach der Einführung der Mutterschaftsversicherung mit einer höheren Wahrscheinlichkeit ein zweites Kind hatten. Vor der Einführung der nationalen Mutterschaftsversicherung hatten ungefähr 70 Prozent der Mütter mindestens ein zweites Kind, während 30 Prozent nur eines hatten. Nach der Einführung der Mutterschaftsversicherung entschieden sich von letzterer Gruppe ungefähr 10 bis 15 Prozent auch für ein zweites Kind. Das entspricht circa vier zusätzlichen zweitgeborenen Kindern pro 100 Erstgeborenen. Was war passiert? Vereinfacht gesagt galt früher, dass sich Frauen entweder für Arbeit oder Kinder entscheiden mussten. Jene Frauen, welche doch ein Kind gehabt und sich dann wieder in die Arbeitswelt eingegliedert haben, beliessen es eher bei dem einen Kind, damit sie nicht alles wieder wiederholen mussten (Kind gebären und umsorgen, Fernbleiben bei der Arbeit, frische Eingliederung in den Arbeitsmarkt). Die Mutterschaftsversicherung hat es nun in der Gesellschaft akzeptabler gemacht, dass frau weg ist nach der Geburt und dann später wieder zurückkommt und zu einem gewissen Anstellungsgrad zur Arbeit zurückfindet. Heutzutage ist beides wichtig und die Arbeit soll mit dem Familienleben unter einen Hut gebracht werden können. Zehn Jahre nach der Geburt des ersten Kindes kann Folgendes gesagt werden: Durch die Mutterschaftsversicherung sind zwar gleich viele Mütter im Arbeitsverhältnis wie vor der Einführung der Mutterschaftsversicherung, aber sie haben im Durchschnitt mehr Kinder als früher.
Momentan habe ich eine typisch gemischte Position mit Lehrtätigkeit und Forschung. Ich unterrichte viele Studenten unter anderem in Umweltökonomie und Einführung in die Ökonometrie.
Im Ökonometriekurs lernen die Studierenden Daten zu entschlüsseln und zu verwerten. So analysieren sie zum Beispiel Daten, welche politische Entscheidungen beeinflussen können. Die Studierenden lernen mit Software zur Berechnung von Statistik und Regressionsanalysen umzugehen. Ich leite und konstruiere meinen Kurs nach universitären Vorgaben selbstständig. Ich halte wöchentliche Vorlesungen, leite Tutoren an und unterstütze diese in ihren Übungsstunden. Zwischendurch fällt die Administration an, dann folgen das Vor- und Nachbereiten, Schreiben von Examen und Korrigieren. In jedem Kurs bin ich für 160–180 Studenten verantwortlich.
In der Forschung bin ich frei und kann meine Themen und Forschungsfragen selbst aussuchen. Ich habe in vielen Ländern Kontakte, gebe Seminare und bin an Konferenzen beteiligt. Neue Forschungsfragen entstehen bei mir beim Lesen, im Kontakt mit anderen Menschen und manchmal auch als Nebenprodukt eines anderen Forschungsprojektes. Für mich ist Forschung ein bisschen, wie es die Mathematikerin Maryam Mirzakhani beschrieben hat: Ich werde mit meinen «Werkzeugen» im Rucksack über dem Dschungel von Forschungsprojekten abgeworfen und versuche dann mit meinen «Werkzeugen» einen Weg aus dem Dschungel und damit eine Antwort auf meine Forschungsfrage zu finden. Den Fragen nachgehen – «Das ist komisch, warum ist das so?» –, das mochte ich schon immer. Als Forschende gehe ich auf die Suche, schreibe Modelle. Dann bin ich oft im Austausch mit anderen Personen, hole Feedbacks ein und besuche Weiterbildungen für die Datenanalyse. Als Forscherin oder Forscherteam ist man bis zu einem gewissen Grad auf sich allein gestellt, bis irgendwann eine plausible Antwort gefunden wird. Am Ende werden die Ergebnisse in Fachzeitschriften veröffentlicht. Die Wissensdiffusion entsteht im Austausch mit anderen Forschern und Universitäten, um zu schauen, in welche Richtung sich etwas entwickelt. Den Dschungel des Wissens mit den gegebenen Werkzeugen erforschen und den Fragen nachgehen, das ist bereichernd.
Das ist so eine Sache … Ich habe eine Studie dazu gelesen, wie sich das vor und nach der Schwangerschaft verändert bei arbeitstätigen Müttern: Der Schlaf und die eigene Freizeit leiden am meisten, das ist auch bei mir so. Freizeit bedeutet bei mir meistens auch Familienzeit.
Wir machen als Familie viele Wanderungen durch den Busch und der Küste entlang, geniessen das Familienleben, fahren Velo oder sind mit dem Kajak unterwegs. Zusammen kochen, gärtnern, abends skypen sind ebenfalls ausgleichende Aktivitäten. Als Mutter von kleinen Kindern gibt es eine gewisse Zeit, wo ich auf Freizeit verzichte. Aber ich weiss, dass es später wieder mehr Zeit für mich geben wird, wo ich Kunstmuseen erkunden, Romane lesen oder Theater besuchen kann. Ich liebe meinen Job und meine Familie – und es ist gut so, wie es gerade ist.
«Selbst ist die Frau!» Das ist der ultimative Satz, der mein Leben geprägt hat. Was ist mir wichtig und was will ich machen? Mit diesen Fragen gehe ich durchs Leben. Ich teile mein Leben mit einem grossartigen, abenteuerlustigen Mann, welcher sich wie ich auf die Experimente einlässt. Dies hat mir neue Tore eröffnet und siehe da, nun bin ich zusammen mit meiner Familie fast am anderen Ende der Welt gelandet.
Im Namen des Vereins THERI ALUMNI möchte ich mich bei Ihnen herzlich dafür bedanken, dass Sie sich für das Porträt zur Verfügung gestellt haben. Ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Erfolg für Ihr künftiges Wirken.
Persönliche Website online unter: https://emgirsberger.weebly.com
Publikationen online unter: https://profiles.uts.edu.au/EstherMirjam.Girsberger/publications
Esther Mirjam Girsberger
Geboren am 25.2.1985 in Schwyz (SZ)
Wohnort
Aufgewachsen in Brunnen (SZ)
Aktuell wohnhaft in Sydney (AUS)
Ausbildung
1991 – 1999 Primar- und Sekundarschule in Brunnen (SZ)
1999 – 2003 Matura Theresianum Ingenbohl, Brunnen (SZ)
2003 – 2006 Bachelor in Wirtschaft, Universität Lausanne, Lausanne (CH)
2005 – 2006 Erasmusprogramm Austauschjahr, Universität Carlos III, Madrid (SP)
2006 – 2008 Master in Wirtschaft, Universität Lausanne, Lausanne (CH)
2009 – 2010 Master (Research) in Wirtschaft, Europäisches Hochschulinstitut, Florenz (IT)
09 – 10/2012 Visiting Assistant in Research, Yale Universität, New Haven CT (USA)
2010 – 2015 Doktorat in Wirtschaft, Europäisches Hochschulinstitut, Florenz (IT)
Lehrtätigkeit
2017, 2018 Koordinatorin & Dozentin: Politische und institutionelle Ökonomie (Master), Universität Lausanne
2019 – heute Koordinatorin & Dozentin: Einführung in die Ökonometrie (Bachelor), Technische Universität Sydney, Sydney (AUS)
2020 – heute Koordinatorin & Dozentin: Umweltökonomie (Bachelor), Technische Universität Sydney (AUS)
Berufliche Tätigkeiten
08/2014 – 07/2018 Postdoktorandin, Universität Lausanne, NCCR Lives & Departement Ökonomie, Lausanne (CH)
11/2014 – heute Forschungspartnerin, IZA Institut für Arbeitswirtschaft, Bonn (D)
08/2018 – heute Assistenzprofessorin, Technische Universität Sydney, Sydney (Aus)