Die Fachschaft Latein
Es ist Freitag, 10:20 Uhr, die Schülerinnen trudeln im Schulzimmer ein, sie nehmen in den Reihen Platz, holen ihre Unterlagen hervor, Bücher, Stift, Heft, Tablet – ein kleiner Schwatz zu Aufgabe X einer Prüfung bei Lehrerperson Y ... ein Gong, die Stunde beginnt ...
Die Korrektur der in den vorangegangenen Lektionen angefertigten Übersetzung steht an. Das Thema: der römische Verkehr. Eine der Schülerinnen liest vor: «Gaius: ‹Populi vias publicas parvis angustisque itineribus anteponunt. Sunt enim bene stratae, tutae sunt, quia celebres sunt.› – Gaius sagt: ‹Das Volk stellen die kleinen öffentlichen Strassen den engen Wegen vor. Sie sind nämlich gut gepflastert, sie sind sicher, weil sie berühmt sind.›»
Es folgt ein Kichern – diese Sätze hängen etwas schief. Irgendwie gibt das Ganze noch keinen Sinn. Beispielsweise ist «populi» Plural und stimmt mit «anteponunt» im Numerus überein – doch ist es überhaupt sinnvoll hier «populi» mit einem Plural zu übersetzen? Und wenn nein, müsste dann nicht das Verb, das im Lateinischen im Plural steht, zu Deutsch im Singular übersetzt werden? Und was ist mit der Bedeutung von «anteponunt»?
Die anderen Schülerinnen mischen sich ein: «Ich habe übersetzt: ‹Das Volk stellt die öffentlichen kleinen Strassen den engen Wegen voran.›» Gut, die Numerus-Kongruenz stimmt, aber wäre es nicht schlauer, hier mit «bevorzugen» oder «vorziehen» zu arbeiten? Und was ist mit dem enklitischen -que? Welche Adjektive stimmen in Kasus, Numerus und Genus mit welchen Substantiven überein?
Wir nähern uns nach weiteren Schlaufen langsam einer verständlichen Übersetzung: «Das Volk zieht die öffentlichen Strassen den kleinen und schmalen Wegen vor. Sie sind nämlich gut gepflastert und sie sind sicher, weil sie oft begangen werden.» – Abschliessend fällt der Blick auf die auffällige Anordnung der Worte: Habt ihr den Chiasmus bemerkt?
«Was ist ein Chiasmus?», fragen die Schülerinnen.
Das Übersetzen ist ein produktiver Prozess und erfordert umfassende Kenntnisse der Grammatik, der Formen, des Wortschatzes, des kulturellen Kontextes. Es erfordert zudem geistige Disziplin und Beweglichkeit. Man muss an den Sätzen dranbleiben und an ihnen knobeln bis sie «aufgehen» und Sinn ergeben.
Im Idealfall übertrifft der deutsche Satz an Schönheit das Original. Im Normalfall nicht.
«Traduttore, traditore» oder «Brutte fedeli, belle infedeli»
Es ist keine Seltenheit, dass wir im Unterricht 10 Minuten oder mehr für einen einzigen Satz verwenden. Zeit und Geschwindigkeit erhalten auf diese Weise eine neue Dimension. Latein lernen bedeutet auch: Langsamkeit neu zu lernen.
Das Übersetzen erfordert das Einnehmen einer anderen Perspektive: Zwar kann ich von mir und meinem Vorwissen ausgehen und etwa «celebres» mit Englisch «celebrity» in Verbindung bringen, doch muss ich meine Hypothese immer wieder am Text überprüfen und wenn nötig verwerfen und von Neuem beginnen.
Das Konzept «Strasse» beinhaltet heute meistens geteerte, manchmal sogar mehrspurige Wege mit einem weissen Mittelstreifen, wohingegen Strassen in der Antike mit Steinen gepflastert waren. Erst wer sich aber bewusst wird, dass beim Bau einer römischen Strasse zunächst ein Aushub in die Tiefe von ca. 1,5 Metern erfolgte, die mehrere Meter breite Grube anschliessend mit verschiedenen Schichten aus groben Steinen und Kies wieder gefüllt wurde, die das Fundament legten für den «dorsum», den Strassenbelag – und das von Hand mit Pickel und Schaufel über tausende Kilometer hinweg quer durch das heutige Europa, Afrika und den Nahen Osten – der kann sich so langsam eine Vorstellung davon machen, was es bedeutete, eine Strasse zu befahren, etwas, was bis anhin in Europa unbekannt war. Die Griechen, ein Seefahrervolk, bauten zwar Strassen, aber nur kurze Abschnitte, etwa von Athen an den Piräus.
Unser Wort Strasse ist – wen wundert’s? – lateinisch. Es stammt vom Wort «sternere» ab, das die folgenden Stammformen bildet: sterno (1. Sg. Präs.), stravi (1. Sg. Perf.), stratum (Partizip). Diese letzte Form wurde oben eingangs im Textbeispiel verwendet. Es sind gerade die Partizipien, aus denen viele neue Lehn- und Fremdwörter entstanden sind. Das Wort bedeutet «hinstreuen, glätten» und ist bereits im 8. Jahrhundert im Althochdeutschen bezeugt. Aus (via) strāta (gepflasterter Weg) wurde althochdeutsch strāza, im Mittelhochdeutsch strāze.
Auch «gepflastert» ist nicht deutschen Ursprungs. Dieses Wort geht auf gr.-lat. «emplastrum» zurück – «Wundpflaster» – und im übertragenen Sinne «Bindemittel für Steinbau» (in der Antike bestanden Pflaster mehr aus einem Aufstrich als aus etwas Geklebtem). Dieses Beispiel zeigt, dass in einer vermeintlich deutschen Bedeutung eines lateinischen Wortes oft ein griechisches oder römisches Wort steckt.
Wenn ein Römer auf einer Strasse spazierte, sagte er dazu «ambulare». Wenn ich ambulant im Spital lande, dann spaziere ich rein und am selben Tag wieder raus. Das vermeintlich deutsche «spazieren» geht auf lat. spatium zurück, was «Raum» bedeutet. «Spazieren» muss also etwas wie «Raum gewinnen» bedeutet haben (vgl. Schweizerdeutsch «spazig ha»).
Ein wichtiger Grundgedanke im Lateinunterricht ist humanitas. Das Wort lässt sich in einen Stamm human- und eine Endung -(i)tas trennen. Der Stamm human- findet sich auch im Adjektiv human-us, das zu homo gebildet wurde, was «Mensch» bedeutet. «Humanus» bedeutet «mensch-lich, gebildet». Diese Ableitung von Wörtern – oft von Nomina oder Verba – nennt man «Derivation» (human-us < human-itas). Doch wie kommt dieses Wort zu zwei so völlig verschiedenen Bedeutungen?
Die erste Bedeutung von humanitas wird mit «Menschennatur» angegeben – hier spielt die ratio (Vernunft) eine wichtige Rolle und die Abgrenzung des Menschen zur wilden Natur des Tieres. Zur Natur des Menschen gehört die Vergesellschaftung und somit die Suche nach Nähe zu anderen Menschen. Dies geschieht dadurch, dass man freundlich ist. Diese philanthropía wird noch verstärkt durch höhere Bildung, die in der Auseinandersetzung mit Dichtern, Rednern, Geschichtsschreibern – also mit Literatur – und den zu ihrem Verständnis nötigen Kenntnissen entsteht (paideia).
Am Ende dieser Entwicklung, gleichsam als Folge der höheren Bildung, steht der feine Geschmack, ein feines Gefühl für das, was sich schickt: der «Output» dessen, was man an Bildung verinnerlicht hat.
Die Endung -(i)tas (immer f.!) bedeutet «Zustand, Verhalten, Eigenschaft», ähnlich wie im Deutschen die Endung -keit bzw. -heit. Mit diesem Wissen lassen sich neue Begriffe bilden oder andere, auch aus anderen Sprachen, ableiten:
Die Welt ist in beständigem Wandel. So wurde dem Theri vor nicht allzu langer Zeit der Geldhahn zugedreht und der Schule drohte die Schliessung. Die Welt wurde von einer zwei Jahre dauernden ... – ich will gar nicht davon reden. Erst kürzlich hat sich die politische Lage im Osten Europas dramatisch und schlagartig verändert und wie es weitergeht – das wissen nur die Götter.
Nebst diesen Veränderungen, die manchmal unvorhersehbar sind, gibt es im Leben auch Konstanten. Die Metamorphosen Ovids etwa haben vom 1. Jh. n. Chr. bis heute immer wieder Leser*innen gefunden und sie berührt. Die Menschen haben bei aller Unbeständigkeit immer wieder nach Beständigem gesucht und das mag ein Grund sein, weshalb Latein an Schulen heute immer noch gelehrt wird.
Ohne die Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen, die den Wert des Faches aus eigener Anschauung kennen, ohne die Schulleitung, die sich für dieses Bildungsfach ebenfalls immer eingesetzt hat und auch ohne das Kloster, das den hervorragenden Ruf von Ingenbohl über die Kantonsgrenzen hinausträgt, würde es Latein an der Schule nicht mehr geben.
Text: Jakob Zeller, Lehrperson Latein, Fachschaft Latein
Bilder: Daniel Steiner