27.05.2024

Unverstanden

Maturaarbeit von Neo Hausmann, GYM 4B

Unverstanden – Wenn du nicht einmal dich selbst kennst

Unverstanden. So lautet der Titel meines Werkes, das ich im Rahmen meiner Maturaarbeit geschrieben habe. Unverstanden besteht aus 25 einzelnen Texten, die unabhängig voneinander gelesen werden können. Darunter Kurzgeschichten, Tagebucheinträge, Gedankengänge und Tiny Tales. Letztere sind Geschichten, die aus exakt 140 Zeichen bestehen und in den meisten Fällen eine unerwartete Wendung enthalten. Was all diese Texte gemeinsam haben? Sie werden jeweils aus der Perspektive Jugendlicher erzählt, die von komplexen psychischen Störungen betroffen sind und erfahren, dass sie aufgrund ihrer Andersartigkeit nicht verstanden werden. Nicht verstanden von ihrem Umfeld, aber manchmal auch nicht von sich selbst. Die vier fiktiven Jugendlichen Helena, Noah, Ben und Thierry besitzen je ein Kapitel und berichten jeweils über eine der vier psychischen Störungen Anorexie, Depression, Transsexualismus (bzw. die damit einhergehende Diagnose Genderdysphorie) und Dissoziative Identitätsstörung (DIS). Dabei bildet die DIS den Fokus. Diese komplexe und noch ziemlich unerforschte Form der Identitätsstörung, bei der sich aufgrund jahrelangen sexuellen Missbrauchs im Kleinkindalter mehrere Persönlichkeiten in einem Körper «entwickelt haben», ist auch das, was die vier Figuren zusammenbringt. Sie haben nämlich sehr viel mehr miteinander zu tun, als ihnen selbst bewusst ist.

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Und dann gibt es da noch Elfe. Das kleine Mädchen von gerade einmal zwei Jahren taucht immer wieder im Hintergrund auf und spielt eine entscheidende Rolle bei der Verknüpfung der vier Jugendlichen.
Mein Anliegen mit diesem Buch ist es, auf komplexe psychische Störungen aufmerksam zu machen. Darunter einige, die chronisch sind, d.h. ein Leben lang bleiben können. Dazu habe ich mir vier konkrete Störungsbilder ausgesucht, dazu recherchiert und dann Geschichten darüber geschrieben. Ich habe jedoch nicht nur das theoretische Wissen in Kurzgeschichten eingebaut, sondern mich auch intensiv mit verschiedenen literarischen Formen auseinandergesetzt. Um die wichtigsten zu nennen: Kurzgeschichten, Novellen und Tiny Tales. Weiter habe ich mich mit dem Schreiben aus mehreren Perspektiven und mit literarischen Stilmitteln wie dem Gedankenstrom oder dem inneren Monolog befasst. Ich habe mich auch an unterschiedlichen Schreibstilen versucht. So konnte ich jedem der vier Jugendlichen eine eigene Art zu sprechen bzw. zu schreiben ermöglichen. Somit ist Unverstanden eine Verbindung aus psychologischer und medizinischer Theorie und Literatur.
Gerade weil die vier Störungsbilder komplex und vielschichtig sind und es mir ein grosses Anliegen ist, diese Störungsbilder möglichst verständlich rüberzubringen, habe ich im Werk Hilfen eingebaut. So lassen sich im Vorwort Zusammenfassungen der Theorien zu den vier psychischen Erkrankungen finden. Das Werk besitzt auch ein umfangreiches Nachwort, das zusätzliche Erklärungen zu den einzelnen Texten, sowie Interpretationsansätze bietet.
Ich bin überglücklich, sagen zu dürfen, dass ich für Unverstanden sogar einen Verlag gefunden habe. Die erweiterte Geschichte von Helena, Noah, Ben, Thierry und Elfe wird als Psychothriller voraussichtlich im Herbst 2025 unter dem kwasi-Verlag veröffentlicht.

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Als Einblick in meine Maturaarbeit nun ein Tiny Tale und eine Kurzgeschichte bzw. einen inneren Monolog.


Lauschen

Ihr versteht mich nicht. Nicht weil ihr die Sprache nicht beherrscht, sondern weil ihr mir nicht zuhört! 140 Ohren lauschten im Verborgenen.


Überfordert

Ich hasse diese Welt. Wenn es dir schlecht geht, ist niemand da, der dir wirklich helfen kann, weil sie alle überfordert sind. Sogar in der geschlossenen Psychiatrie können sie nichts Besseres machen, als zu sagen: «Wenn Sie wütend sind und den Drang verspüren, sich selbst oder jemand anderen zu verletzten, dann schlagen sie doch mit den Fäusten auf das Kissen. Das wird garantiert helfen.» Später hockt man dann mit einem schmerzenden Fuss, eine Bisswunde am rechten Arm, blauen Flecken und einer gequetschten Rippe zusammengekrümmt auf dem Boden und denkt: Ja genau, mit den Fäusten auf das Kissen schlagen würde mir nun sicher helfen. Ich brauche den Schmerz, den körperlichen. Psychischen Schmerz habe ich genug, genug für ein ganzes Leben. Ich bin so abgestumpft, dass ich regelrecht schmerzunempfindlich geworden bin und mir die bewusst selbst zugefügten Verletzungen zu wenig Schmerzen bereiten. Ich habe mir den Oberschenkel und die Lippen aufgeritzt, die Arme blutig gekratzt, bis man Hautfetzen wegziehen konnte. Es hat gebrannt. Es hat gutgetan, denn immerhin habe ich etwas gefühlt und der Blutgeschmack in Mund und Nase ist angenehm. Lecker.
Ich liebe ihn. Eisen. Ich humple links und kann meinen linken Arm nicht heben, weil meine Rippen schmerzen. Ich habe dort auch einen blauen Fleck und auf dem rechten Arm vier. Das Schlimmste: ich weiss nicht mehr, woher die stammen. Ich kann mich wieder einmal nicht erinnern. Doch ich weiss, dass ich das getan haben muss. Ich, also dieses Biest in mir. Ich finde mich auf allen Vieren wieder, die Finger wie Krallen in den Boden gepresst. Ich schluchze, weine, mein Oberkörper zuckt heftig, meine rechte Hand zittert unkontrolliert, ich will damit jemanden erwürgen. Töten. Natürlich könnte ich jetzt eine für genau diesen Fall vorgesehene Notfalltablette nehmen. Die Tablette verträgt sich nicht mit derjenigen, die ich täglich nehme. Doch nur schon wegen den Herzrhythmusstörungen, zu denen es bei Einnahme beider Tabletten kommen kann, würde es sich lohnen. Ich würde dann wenigstens meinen Herzschlag spüren. Doch dann könnte ich eventuell nicht mehr genug davon bekommen und würde mehr als nur eine Tablette nehmen. Einmal waren es drei oder so und ich habe danach alles doppelt gesehen und konnte nicht mehr geradeaus laufen.
Mich beschäftigen Dinge, über die ich mit niemandem reden kann. Zum Beispiel, warum ich so viele Aussetzer habe, mich oft nicht mehr erinnern kann was ich gesagt und getan habe, warum ich mehrere Stimmen in meinem Inneren höre, die manchmal alle durcheinander reden, sodass ich gar nichts mehr sagen kann und vor allem würde es erklären, warum ich mich oft nicht wie ich selbst fühle. Wenn ihr jetzt verwirrt seid, geht es euch so wie mir. Das alles überfordert mich und ich kann die Scheisse niemandem erzählen, vor allem dann nicht, wenn der andere frontet, denn er würde niemals zulassen, dass ich etwas von all dem erzähle. Keine Ahnung, ob das wirr klingt oder gar wie das Tagebuch eines Irren, hey, vermutlich bin ich das auch, aber irgendwie muss ich das schriftlich festhalten, weil ich das sonst gar nicht mitbekommen würde.
Von aussen betrachtet, bin ich ein junger Mann, zuverlässig, fleissig, brav und ruhig. Das sehe ich anders, Ben. Doch da ist noch etwas anderes. In mir. Eine andere Seite, die mehr ist, als nur die wütende oder die böse Version von mir. Das bin nicht ich. Wirklich nicht?
Und seit neustem spricht er manchmal zu mir. Er nennt sich Thierry. Ich nenne ihn Biest. Denn das ist er. Er ist böse.
Doch wie sollen das Aussenstehende verstehen, wenn bereits ich, Ben, der davon betroffen ist, damit überfordert bin?


Text von Neo Hausmann GYM 4B

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Autor: Daniel Steiner